Vertrag des Landes Sachsen-Anhalt mit der Jüdischen
Gemeinschaft in Sachsen-Anhalt

 

Vom 23. März 1994 (GVBl. LSA S. 795)

 

Das Land Sachsen-Anhalt (im folgenden das Land), vertreten durch den Ministerpräsidenten, Herrn Dr. Christoph Bergner,

 

und die Jüdischen Gemeinden in Sachsen-Anhalt, vertreten durch den Landesverband Jüdischer Gemeinden Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg (im folgenden der Landesverband),

 

sowie der Landesverband Jüdischer Gemeinden Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg (im folgenden für die jüdischen Vertragspartner: die Jüdische Gemeinschaft in Sachsen-Anhalt), vertreten durch die satzungsmäßigen Vertreter,

 

·         in Verantwortung vor der deutschen Geschichte, die durch die Verfolgung und Vernichtung von Menschen jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft mitgeprägt ist,

·         in Kenntnis der Maßnahmen offener oder verdeckter Gewalt in der Zeit kommunistischer Gewaltherrschaft,

·         in dem Bewußtsein des großen Verlustes, den das Land Sachsen-Anhalt durch die Vernichtung jüdischen Lebens und jüdischer Kultur erlitten hat,

·         in dem Wunsch, der Jüdischen Gemeinschaft in Sachsen-Anhalt den Wiederaufbau eines Gemeindelebens zu erleichtern, 

 

haben für das Gebiet des Landes Sachsen-Anhalt folgendes vereinbart:

 

Artikel 1
Glaubensfreiheit und Eigenständigkeit
 

(1) Das Land garantiert auf der Grundlage seiner Verfassung und des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland die uneingeschränkte Freiheit des jüdischen Glaubens und gewährt der Religionsausübung den gesetzlichen Schutz.

 

(2) Die Jüdischen Kultusgemeinden im Land Sachsen-Anhalt und der Landesverband ordnen und verwalten ihre Angelegenheiten entsprechend jüdischer Traditionen und Gesetze innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes selbständig.

 
Artikel 2
Zusammenwirken
 

(1) Die Landesregierung und der Landesverband werden sich regelmäßig und bei Bedarf zu gemeinsamen Gesprächen über solche Fragen treffen, die ihr Verhältnis zueinander berühren oder von beiderseitigem Interesse sind.

 

(2) Bei Gesetzgebungsvorhaben und Programmen auf Sachgebieten, die die Belange der Jüdischen Gemeinschaft in Sachsen-Anhalt unmittelbar betreffen, wird die Landesregierung den Landesverband angemessen beteiligen.

 

(3) Das Land wird den Landesverband insbesondere im Rahmen der Gedenkstättenarbeit beteiligen, soweit jüdische Belange berührt sind.

 
Artikel 3
Schutz der Jüdischen Gemeinschaft
 

Das Land gewährleistet den Schutz der Einrichtungen der Jüdischen Gemeinschaft in Sachsen-Anhalt und fördert den Erhalt historischer Stätten.

 
Artikel 4
Feiertage
 

Das Land gewährleistet an jüdischen Feiertagen den Fortbestand der im Gesetz über die Sonn- und Feiertage vom 22. Mai 1992 (GVBI. LSA S. 356) enthaltenen Freistellungsansprüche.

 

Artikel 5
Vermögensschutz
 

Bei der Anwendung enteignungsrechtlicher Vorschriften werden das Land und die kommunalen Gebietskörperschaften auf Belange der Jüdischen Gemeinschaft in Sachsen-Anhalt Rücksicht nehmen und gegebenenfalls bei der Beschaffung gleichwertiger Ersatzgrundstücke Hilfe leisten.

 

Artikel 6
Friedhöfe
 

(1) Das Land und die kommunalen Gebietskörperschaften werden die Unantastbarkeit der zugelassenen und nicht aufgegebenen jüdischen Begräbnisstätten beachten.

 

(2) Die jüdischen Friedhöfe genießen den gleichen staatlichen Schutz wie kommunale Friedhöfe. Die Jüdischen Gemeinden haben das Recht, neue Friedhöfe im Rahmen der rechtlichen Bestimmungen anzulegen. Bei der Anlage neuer Friedhöfe werden das Land und die kommunalen Gebietskörperschaften Förderungsmöglichkeiten im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel prüfen.

 

(3) Das Land gewährt im Rahmen von Vereinbarungen zwischen dem Bund und den Ländern Zuschüsse für die Erhaltung und Pflege derjenigen jüdischen Friedhöfe oder Teile von ihnen, die nach den gemeindlichen Vorschriften nicht wieder belegt werden können.

 
Artikel 7
Denkmalpflege

 

(1) Die Jüdische Gemeinschaft in Sachsen-Anhalt verpflichtet sich, denkmalswerte Gebäude nebst den dazugehörenden Grundstücken sowie deren Kunst- und Kulturgegenstände zu erhalten und zu pflegen, soweit diese Verpflichtungen im Einzelfall nicht zu unzumutbaren Belastungen der betroffenen Jüdischen Gemeinde oder des Landesverbandes führen. Die Denkmalbehörden haben bei Kulturdenkmalen der Jüdischen Gemeinschaft in Sachsen-Anhalt, die dem Gottesdienst oder sonstigen Kulthandlungen zu dienen bestimmt sind, die kultischen und religiösen Belange, die von dem zuständigen Vorstand festzustellen sind, vorrangig zu beachten. Vor der Durchführung von Maßnahmen setzen sich die Behörden mit dem zuständigen Vorstand ins Benehmen.

 

(2) Bei der Vergabe der Mittel des Landes für Denkmalpflege wird die Jüdische Gemeinschaft in Sachsen-Anhalt unter Beachtung der Regelungen des Denkmalschutzgesetzes angemessen berücksichtigt. Das Land wird sich dafür einsetzen, daß die Jüdische Gemeinschaft in Sachsen-Anhalt auch von solchen Einrichtungen Hilfen erhält, die auf nationaler und internationaler Ebene für die Kultur- und Denkmalpflege tätig sind.

 
Artikel 8
Schulen in jüdischer Trägerschaft
 

(1) Die Jüdische Gemeinschaft in Sachsen-Anhalt hat das Recht, allgemeinbildende Schulen in jüdischer Trägerschaft auf konfessioneller Grundlage einzurichten und zu betreiben.

 

(2) Nähere Regelungen des Verfahrens zur staatlichen Genehmigung und Anerkennung solcher Schulen und ihrer Mitfinanzierung aus öffentlichen Mitteln bleiben dem Landesrecht vorbehalten.

 
Artikel 9
Eigene Bildungs- und Sozialeinrichtungen
 

Die Jüdische Gemeinschaft in Sachsen-Anhalt hat das Recht, im Bildungs- und Sozialbereich sowie im Gesundheitswesen eigene Einrichtungen zu unterhalten.

 

Artikel 10
Synagoge Gröbzig
 

Die Vertragsparteien werden sich dafür einsetzen, dem einzigen in Deutschland erhalten gebliebenen Synagogenbau dieser Art in Gröbzig eine dauerhafte Grundlage zu verschaffen und ihn der Öffentlichkeit auf Dauer zugänglich zu machen.

 
Artikel 11
Kulturförderung

 

(1) Die Vertragsparteien werden sich bemühen, im Abstand von möglichst drei Jahren jüdische Kulturtage, bei Bedarf auch in Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen und Organisationen, durchzuführen.

 

(2) Das Land unterstützt im Rahmen seiner Möglichkeiten die Jüdische Gemeinschaft in Sachsen-Anhalt bei der Erforschung der jüdischen Geschichte und bei der Aufarbeitung des deutsch-jüdischen Erbes.

 
Artikel 12
Rundfunk
 

Das Land wird darauf hinwirken, daß die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Jüdischen Gemeinschaft in Sachsen-Anhalt angemessene Sendezeiten zur Übertragung religiöser Sendungen zur Verfügung stellen. In den Aufsichtsgremien (Rundfunkräte, Programmausschüsse und vergleichbare Gremien) soll die Jüdische Gemeinschaft in Sachsen-Anhalt vertreten sein.

 
Artikel 13
Staatsleistung
 

(1) Das Land zahlt an den Landesverband einen Gesamtzuschuß (Staatsleistung). Über diese Staatsleistung hinaus werden weitere Leistungen an die Jüdische Gemeinschaft in Sachsen-Anhalt nur erbracht, wenn sie in diesem Vertrag oder den allgemeinen Gesetzen vorgesehen sind.

 

(2) Die Staatsleistung beträgt:

 

1991

1 150 000 DM

1992

1 150 000 DM

1993

1 450 000 DM

1994

1 500 000 DM

 

(3) Ändert sich in der Folgezeit die Besoldung der Beamten im Staatsdienst, so ändert sich die Staatsleistung auf der Grundlage der für das Jahr 1994 vereinbarten Höhe entsprechend. Zugrunde gelegt wird das Eingangsamt für den höheren nichttechnischen allgemeinen Verwaltungsdienst, Besoldungsgruppe A 13 der Bundesbesoldungsordnung, 7. Dienstaltersstufe, 2 Kinder.

 

(4) Die Staatsleistung wird mit einem Zwölftel des Jahresbetrages jeweils monatlich im voraus an den Landesverband gezahlt.

 
Artikel 14
Gebühren
 

Das Land wird die auf Landesrecht beruhenden Gebührenbefreiungen für das Land auf die Jüdische Gemeinschaft in Sachsen-Anhalt sowie ihre öffentlich-rechtlichen Anstalten, Stiftungen, Vereine und Verbände erstrecken.

 
Artikel 15
Parität
 

Sollte das Land in Verträgen mit anderen vergleichbaren Religionsgemeinschaften über diesen Vertrag hinausgehende Rechte und Leistungen gewähren, werden die Vertragsparteien gemeinsam prüfen, ob wegen des Grundsatzes der Parität Änderungen dieses Vertrages notwendig sind.

 
Artikel 16
Freundschaftsklausel
 

Die Vertragsparteien werden eine in Zukunft zwischen ihnen etwa entstehende Meinungsverschiedenheit über die Auslegung einer Bestimmung dieses Vertrages auf freundschaftliche Weise beseitigen.

 

Artikel 17
Sprachliche Gleichstellung
 

Personen- und Funktionsbezeichnungen in diesem Vertrag gelten jeweils in männlicher und weiblicher Form.

 
Artikel 18
Inkrafttreten
 

Dieser Vertrag soll ratifiziert und die Ratifikationsurkunden sollen in Magdeburg ausgetauscht werden. Der Vertag einschließlich des Schlussprotokolls, das einen integrierenden Bestandteil des Vertrages bildet, tritt am Tage nach diesem Austausch in Kraft.

 

Zu Urkund dessen ist dieser Vertag in zweifacher Urschrift unterzeichnet worden; jede Vertragspartei erhält einen Originaltext.

 

 

 

Schlußprotokoll

 
Zu Artikel 2 Absatz 1

 

(1) Zwischen den Vertragsparteien besteht Übereinstimmung darüber, daß mit "regelmäßigen" Treffen Zusammenkünfte gemeint sind, die möglichst einmal jährlich stattfinden.

 

(2) Der Landesverband unterrichtet die Landesregierung über Vakanzen und Neubesetzungen der leitenden Ämter (z. B. Vorsitzende des Landesverbandes und der Jüdischen Gemeinden).

 
Zu Artikel 2 Absatz 2
 

Die "angemessene" Beteiligung bei Gesetzgebungsvorhaben besteht in der Regel in der rechtzeitigen Anhörung vor der Beschlussfassung der Landesregierung über die Einbringung des Gesetzesentwurfs.

 
Zu Artikel 3
 

Näheres bleibt besonderen Vereinbarungen vorbehalten.

 

Zu Artikel 4
 

Jüdische Feiertage sind:

1.                  Rosch Haschana (Neujahrsfest) am 1. und 2. Tag, beginnend am Vortage um 16 Uhr

2.                  Jom Kippur (Versöhnungsfest), beginnend am Vortage um 16 Uhr

3.                  Sukkoth (Laubhüttenfest) am 1. und 2. Tag, beginnend am Vortage um 17 Uhr

4.                  Schemini Azereth (Schlußfest), beginnend am Vortage um 17 Uhr

5.                  Simchat Thora (Fest der Gesetzesfreude), beginnend am Vortage um 17 Uhr

6.                  Pessach (Fest zum Auszug aus Ägypten) am 1., 2., 7. und 8. Tag, beginnend am Vortage um 17 Uhr

7.                  Schawuoth (Wochenfest) am 1. und 2. Tag, beginnend am Vortage um 17 Uhr.

 

Die Daten der Feiertage teilt der Landesverband zwei Jahre im voraus der Landesregierung mit.

 
Zu Artikel 5
 

(1) Es besteht Einvernehmen darüber, daß Artikel 5 keinen Anspruch auf Übereignung eines staatlichen oder kommunalen Grundstücks begründet, sondern eine Unterstützung bei der Suche nach einem Ersatzgrundstück und – im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten – gegebenenfalls eine Bevorzugung bei der Vergabe öffentlicher Grundstücke im Falle mehrerer Interessenten bewirken soll.

 

(2) Wird bei Enteignung jüdischer Körperschaften ein Anspruch auf Entschädigung in Land geltend gemacht und hängt die Anerkennung des Anspruchs von der Abwägung zwischen den Interessen der Allgemeinheit und denen der Beteiligten ab, so werden die Landes- und Kommunalbehörden berücksichtigen, daß der Schutze des Vermögens der Jüdischen Gemeinschaft in Sachsen-Anhalt ein herausgehobener ist. Stehen sonstigen Körperschaften beim Grundstückserwerb Hindernisse entgegen, so gelten diese in der Regel auch für die Jüdische Gemeinschaft in Sachsen-Anhalt; eine generelle Ausnahmeregelung ist nicht möglich.

 
Zu Artikel 6 Absatz 2
 

Das Land wird sich dafür verwenden, daß die kommunalen Gebietskörperschaften, soweit erforderlich, Vereinbarungen mit den Trägern jüdischer Friedhöfe über die Errichtung oder Instandsetzung von Friedhofsbauten abschließen.

 
Zu Artikel 11 Absatz 2
 

Die Bestimmung bezieht sich in erster Linie auf die politische und organisatorische Unterstützung; ein Anspruch auf finanzielle Förderung wird dadurch nicht begründet.

 
Zu Artikel 12
 

Dem Anliegen ist für den Mitteldeutschen Rundfunk durch § 14 Abs. 3 und § 19 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 des Staatsvertrages über den Mitteldeutschen Rundfunk vom 30. Mai 1991 (Anlage zum Gesetz vom 25. Juni 1991, GVBl. LSA S. 111) sowie für das Zweite Deutsche Fernsehen durch Artikel 3 § 11 Abs. 3 und § 21 Abs. 1 Buchst. f des Staatsvertrages über den Rundfunk im vereinten Deutschland vom 31. August 1991 (Anlage zum Gesetz vom 12. Dezember 1991, GVBl. LSA S. 478) sowie für das Deutschlandradio durch § 11 Abs. 3 Satz 1 und § 21 Abs. 1 Buchst. e des Staatsvertrages über die Körperschaft des öffentlichen Rechts "Deutschlandradio" (Anlage 1 zum Gesetz vom 17. Dezember 1993, GVBl. LSA S. 770) Rechnung getragen. Bei Änderung der bestehenden und Abschluß neuer Rundfunk-Staatsverträge werden die Vertragsparteien wegen der Berücksichtigung der Interessen der Jüdischen Gemeinschaft in Sachsen-Anhalt vorher miteinander in Verbindung treten.

 

Zu Artikel 13 Absatz 1

 

Die Staatsleistung ist ausschließlich für die Jüdische Gemeinschaft im Land Sachsen-Anhalt bestimmt. Es besteht Einvernehmen darüber, daß die Staatsleistung die Zuschüsse für neu entstehende Gemeinden mit umfasst und daß die Mittel anteilmäßig den Gemeinden unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zum Landesverband zufließen sollen. Freiwillige Zuschüsse des Landes, etwa für die Errichtung oder den Erhalt von Räumlichkeiten und Anlagen, die den Kultus-, Seelsorge- und Sozialaufgaben dienen, sind durch Artikel 13 nicht ausgeschlossen.

 
Zu Artikel 13 Absatz 3
 

Die Vertragsparteien stimmen darin überein, daß die Gleitklausel für die Staatsleistung ab 1995 gilt und im jeweiligen Haushaltsjahr wirksam wird.

 
Zu Artikel 13 Absatz 4
 

Ein Prüfung der Verwendung der Mittel durch staatliche Stellen findet nicht statt, sofern die Jahresrechnung durch eine unabhängige Prüfungseinrichtung geprüft wird.